Hamburg, Nicaragua

„Agua es vida“: Ein technisches und soziales Projekt im Oberstufenprofil

Die Begrenztheit unserer fossilen Ressourcen sind ebenso Unterrichtsgegenstand wie die Ursachen der Klimaveränderung und die Entwicklungspolitik. Aber welche Schule kann schon sagen: „Unsere Schülerinnen und Schüler arbeiten seit den 90er Jahren an der Energiewende mit“? Wie kam es zum Projekt „Agua es vida“? Welche Partner braucht man dazu? Und welche curricularen Bedingungen? Wie wird und wirkt ein Schulprojekt nachhaltig?

Mitte der 90er Jahre begannen die ersten Wahlpflicht-Kurse der Gesamtschule Blankenese (heute „Stadtteilschule Blankenese“) in Hamburg, sich intensiv mit dem Thema „Regenerative Energien“ zu beschäftigen. Vielen Lehrern war damals klar, dass die Kernenergie ein Auslaufmodell war. Ebenfalls wussten wir um die Begrenztheit fossiler Energieträger – das Ende ihres massenhaften Verbrennens war somit notwendig und auch abzusehen. Die Verfeuerung von Kohle, Öl und Gas ist zudem wesentlich verantwortlich für den ständig steigenden CO2-Gehalt in der Erdatmosphäre. Drohende Klimaverschiebungen scheinen unabwendbar.

Kurzum: Das vor der Tür stehende 21. Jahrhundert stellte von Beginn an die wesentliche Frage nach einer radikalen Neuorientierung in der Energieversorgung hin zu einer kompletten Versorgung auf der Basis regenerativer Energien. Und die Kinder und Jugendlichen, die vor uns in den Schulklassen saßen, bildeten die kommende Generation, die diese herkulische Aufgabe hauptsächlich würde meistern müssen.

Was lag näher, als die Schuljugend schon möglichst früh an diese Bestimmung heranzuführen, ihr Wissen und Fähigkeiten zu vermitteln, um ihr genügen zu können? Wir haben diesen Auftrag von vornherein praktisch gewendet: Wir beließen es nicht nur bei der Wissensvermittlung, sondern bauten in der Schule auch funktionstüchtige Energieanlagen – unsere Schülerinnen und Schüler arbeiten seit den 90er Jahren aktiv an der Energiewende mit.

1996 wurde die erste netzgekoppelte Photovoltaikanlage auf dem Dach der Gesamtschule Blankenese eingeweiht. Sie war komplett im Unterricht gebaut worden und ihre Energieproduktion wurde nach dem Hamburger „Energiekonzept Zukunft“ kostendeckend vergütet – Jahre vor dem Inkrafttreten des nationalen Einspeisegesetzes EEG. Dieses Ereignis machte die GS Blankenese schlagartig bundesweit bekannt. In den Folgejahren haben Klassen bzw. Kurse der GS Blankenese bis heute (März 2015) mehr als 50 regenerative Energieanlagen gebaut, auf dem eigenen Schuldach oder in Kooperation mit ausländischen Bildungsinstitutionen in Polen, Tansania, Costa Rica oder Nicaragua. In dieser Zeit sind die verschiedenen Profilklassen und Physikkurse für ihre Aktivitäten „rund um die Solarenergie” im nationalen und internationalen Maßstab immer wieder ausgezeichnet worden.

Die Projektreihe „Agua es vida“ und ihre Partner

„Agua es vida“ ist die gemeinsame Projektreihe des Agrarinstituts der Universität von Leon (UNAN) und der Stadtteilschule Blankenese. Leon ist die zweitgrößte Stadt Nicaraguas und liegt nah an der Pazifikküste. 2002 begann „Agua es vida“ innerhalb der Städtepartnerschaft Hamburg – Leon. Die Idee, solargestützte Bewässerungssysteme als Mittel zur Produktivitätssteigerung einzusetzen, entstand nach intensiver Diskussion mit dem ehemaligen Präsidenten der UNAN, Dr. Ernesto Medina, und seinen Mitarbeitern des Agrarinstituts. Feldbewässerung erfordert Energie, die zum Betrieb der Systeme bereitgestellt werden muss. Sie sollte umweltschonend und klimaverträglich gewonnen werden: Das bedeutete den Einsatz von Solarenergie. Ziel dieser Projektreihe war also die Installation von solargestützten Wasserversorgungssystemen in der ländlichen Region Leons.

Vorbereitungsarbeiten in der nicaraguanischen Solartechnikfirma

Die Flex, Luanas Lieblingswerkzeug

Seitdem besuchen jährlich Technik-Kurse bzw. Profilklassen unserer Oberstufe Leon, um gemeinsam mit Studenten und Wissenschaftlern der UNAN zu arbeiten.

Innerhalb der Projektreihe haben wir inzwischen 20 Pumpanlagen gebaut. Alle Anlagen arbeiten zuverlässig, nahezu wartungsfrei und versorgen Menschen, Vieh und Pflanzen mit Wasser. Sie verfügen über insgesamt 9 kW Solargeneratorleistung und ersparen der Atmosphäre pro Jahr ca. 48 t CO2, die beim Einsatz leistungsentsprechender Dieselgeneratoren erzeugt worden wären. In den Trockenzeiten sind zusätzliche Ernten eingefahren worden. Der produktive Einsatz der Solarenergie erweist sich als unmittelbar existenzsichernd. Das Einkommen der betroffenen Bauern konnte gesteigert und die Ernährungssituation ihrer Familien verbessert werden.  Das heißt mit anderen Worten: „Agua es vida“ erlaubt nicht nur eine klimaschonende Bereitstellung der Energie, sondern es ist auch ein soziales Projekt.

Der Hintergrund von „Agua es vida“

Nicaragua ist in bestimmter Hinsicht ein reiches Land. Die Landwirtschaft an der Westküste etwa findet ausgezeichnete Bedingungen vor. Die schier unerschöpfliche Sonneneinstrahlung, die pro Jahr fast das Doppelte der Menge im Vergleich zu Norddeutschland erreicht, könnte der sichere Garant für die Produktion nicht nur der benötigten Biomasse, sondern auch der Elektrizität sein. Der Boden ist fruchtbar und durch Vulkanasche hoch mineralisiert, selbst die Niederschläge sind im Raum Leon mit etwa 1600 mm pro Jahr hinreichend. Doch diese Niederschläge fallen nicht gleichmäßig über das Jahr verteilt; kurze und heftige Regenzeiten wechseln sich mit langen Trockenperioden ab. Normalerweise gibt es eine kleinere Regenzeit im Mai/Juni und eine große im September/Oktober. Seit Jahren beobachten die Bauern an der Pazifikküste Nicaraguas, dass die Mai-Regenzeit versiegt, d.h., geringere Niederschläge bringt oder ganz ausbleibt. Dann dehnt sich die Trockenzeit auf neun Monate aus. Das Ausbleiben der Regenzeit bei gleichzeitigem Rückgang der absoluten Niederschlagsmenge führt laut Weltgesundheitsorganisation zu einem „Korridor der Trockenheit“ in Zentralamerika. 8,6 Millionen Menschen leben in diesem Korridor und das westliche Nicaragua gehört zu dieser vom Klimawandel bedrohten Region. Die künstliche Feldbewässerung wird für die landwirtschaftliche Produktion zur Überlebensfrage. Genau an diesem Punkt setzt das Oberstufenprofil „Regenerative Energiesysteme“ in der Stadtteilschule Blankenese an.

Projektorientiert, praktisch, politisch

Die Neugestaltung der Profiloberstufe, die in Hamburg 2009 begonnen wurde, bietet die Möglichkeit des fächerübergreifenden Unterrichts. Das Oberstufenprofil „Regenerative Energiesysteme“ wird derzeit zum vierten Mal durchgeführt und ist Träger sowie organisatorischer Kern der Projektreihe „Agua es vida“. Es verknüpft die Fächer Technik, Physik und  Politik/Gesellschaft/Wirtschaft (PGW). Ausgehend von kommerziell erhältlichen Komponenten werden im Profil „Regenerative Energiesysteme“ solargestützte Pumpsysteme entworfen, aufgebaut und getestet. Der Unterricht ist anwendungsbezogen und projektorientiert. Die gesamte Vorbereitung auf den Projekteinsatz in Nicaragua wird im fächerverbundenen Unterricht organisiert. Die Projektreihe zielt auf eine anwendungsorientierte Ausbildung in moderner, zukunftsfähiger Energietechnik. Sie bündelt die Themen Solarenergie, Entwicklung und Klimaschutz innerhalb der schulischen Ausbildung. Die Kooperation mit Firmen ist Bestandteil des Unterrichts, um modernes Ingenieurswissen für den Unterricht bereit zu stellen. Derzeit arbeiten wir mit Siemens, SET-Wedel und der in Leon ansässigen deutsch-nicaraguaischen Firma Enicalsa zusammen.

Während innerhalb des Technikunterrichts die solargestützten Pumpsysteme gebaut und getestet werden, liefert die Physik das Grundlagenwissen, um diese Systeme zu verstehen. In Politik/Gesellschaft/Wirtschaft werden schließlich Klima- und Entwicklungsfragen behandelt sowie die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen geklärt, unter denen die Erfolgsgeschichte der solaren Energieversorgung fortgeschrieben werden kann.

Das Profil „Regenerative Energiesysteme“ bietet Schulen und anderen Bildungsinstitutionen ideale Möglichkeiten, mit Ländern im Sonnengürtel unserer Erde zu kooperieren und an einer gemeinsamen Zukunft zu arbeiten. Das Profil führt deutsche und ausländische Schüler auf der Grundlage gemeinsamer Interessen in einem Projekt zusammen. Dieses gemeinsame Interesse besteht in der Installation und Anwendung moderner Energietechnik. Die Interessensidentität ist die Grundlage unserer äußerst erfolgreichen und nachhaltigen Zusammenarbeit, die nun schon über 13 Jahre währt.

Wir möchten – nicht ohne Stolz – darauf aufmerksam machen, dass rund 40% der Abiturientinnen und Abiturienten, die das Profil „Zukunftsfähige Energiesysteme“ durchlaufen haben, Themen wie Erneuerbare Energien, Physik und Klimatologie zum Mittelpunkt ihrer universitären Ausbildung und ihres Berufes wählen.

„Agua es vida“ dynamisch und experimentell

PGW und Physik sind Fächer, die sich auf bewährte Richtlinien und Bildungspläne beziehen können; für das Fach Technik, wie wir es betreiben, gibt es diese (noch) nicht. Deswegen haben wir ein neues Curriculum geschrieben, nicht zuletzt deswegen, um das Fach abiturrelevant zu machen. Unser Augenmerk galt dabei den „regenerativen Energiesystemen“ und ihren Anwendungen. Der Unterricht ist hochexperimentell und unvergleichlich. Projekte solcher Art, wie wir sie realisieren, treiben immer über ihre ursprüngliche Fragestellung hinaus, sie übertreten die Grenzen der eigenen Fachdisziplin und treffen auf Nahtstellen zu anderen Disziplinen (in unserem Fall handelt es sich um Ökonomie, Klimatologie, Biologie und vor allem Informatik).

Das Pumpsystem für den Viehzüchter Ernesto ist fertig!

Das Pumpsystem für den Viehzüchter Ernesto ist fertig!

Dennoch lassen sich Inhalte identifizieren, mit denen jede Profilklasse konfrontiert ist. Ein Beispiel: Vor zwei Jahren hatten wir festgestellt, dass unsere eigenen Messergebnissse, die wir bei Testreihen in der Schule erzielt hatten, von den Datenblättern der Pumpenhersteller häufig erheblich abweichen. Wessen Werte sind nun die realistischeren?

Diese Frage können wir nur beantworten, indem wir unsere Messtechnik verbessern. Das Profil „Zukunftsfähige Energiesysteme“ hat daher im August 2013 zwei neue Systeme auf einer universitätseigenen Finca in Leon installiert. Diese Systeme sind mit je einem internetgestützten Monitoringsystem ausgerüstet, das Messwerte mit hoher Genauigkeit erfasst und speichert. Wir planen, diese Daten auf einem Internetportal auch für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Monitoringsystem erfasst die Solarstrahlung sowie alle relevanten elektrischen und mechanischen Werte des Systems wie Pumpenleistung, Ströme, Durchflussmengen und Druck. Zwei vergleichbare Pumpentypen, die von unterschiedlichen Herstellern stammen und die für die Anwendung in Nicaragua geeignet sind, werden vermessen und verglichen. Letztlich geht es nicht nur darum, für Nicaragua günstige und robuste Systeme zur Verfügung stellen zu können. Diese Systeme müssen auch präzise an die Bedürfnisse des jeweiligen Nutzers angepasst sein – sie dürfen z.B. weder über- noch unterdimensioniert sein. Nur so kann das berechnete Pumpsystem gleichzeitig auch das kostengünstigste werden.

Die Messsysteme liefern zudem belastbare Daten, die sowohl von der Universität in Leon als auch in unserer Schule in der regulären Ausbildung verarbeitet und bewertet werden können. Die dafür notwendige Kommunikationstechnologie ist uns von der Firma SIEMENS in doppelter Ausführung kostenlos zur Verfügung gestellt worden. So wird aus der beschriebenen Fragestellung schließlich eine komplexe Methodik, mit der die Profilklassen beschäftigt werden, um eben diese Frage zu beantworten.

Wie geht es weiter?

An der Stadtteilschule Blankenese ist inzwischen ein eigener Brunnen gebohrt, ein Holzhäuschen über dem Brunnen errichtet und eine Tauchpumpe in das Grundwasser abgesenkt worden. Die Tauchpumpe wird durch eine photovoltaische Anlage versorgt und verfügt über eine Messsensorik und eine speicherprogrammierbaren Steuerung (SPS). Das System, wie es 2013 in Nicaragua errichtet wurde, ist also dupliziert worden.

Wir verfolgen mit dem Bau der solargestützen Pumpe folgende Ausbildungsziele:

  • Wir versetzen die folgenden Profilklassen in eine Lernsituation, wie sie auch in Nicaragua existiert: Wir gehen weit über das bloße Experiment hinaus und können am realen Objekt lernen. Technik und Physik wollen wir den Schulklassen auf neuen Wegen interessant und anschaulich vermitteln. Die Attraktivität von Physik und Technik wird so gesteigert.
  • Schülerinnen und Schüler sind an der Konzipierung und an dem Bau der Anlage beteiligt. Dadurch erweitern sie ihre Kenntnisse über die Funktion einzelner Komponenten eines pv-gestützen Wasserversorgungssystems.
  • Wir vertiefen die Kenntnisse über die Anforderungen und Verschaltungstechnik der Speicherprogrammierbaren Steuerung (SPS).
  • Die Profilklassen werden die Programmierung der SPS weiterentwickeln und kooperieren dazu mit SIEMENS-Ingenieuren. Die Ingenieure kommen in die Schule und stehen uns mit Rat und Tat zur Seite.
  • Ein Nebenzweck erschließt sich: Wir werden mit dem geförderten Wasser klimaschonend den Schülergarten bewässern und die Regenwassernutzungsanlage befüllen.

Nachtrag:

Im März 2015 war ich bei meinem Besuch in Nicaragua ins dortige Energieministerium eingeladen. Eine Mitarbeiterin versicherte mir, dass das Ministerium noch in diesem Jahr eine Ausschreibung von 300 solargestützten Wasserversorgungssystemen plane.

Das wäre nach 13jähriger Arbeit der Durchbruch „unserer“ Systeme!

Clemens Krühler, Jahrgang. 1949, war bis Juli 2014 Lehrer für Physik, Technik und Sport an der Stadtteilschule Blankenese in Hamburg.